US-Aktivistin: Als die DDR für die Freiheit von Angela Davis kämpfte - WELT (2024)

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Dieser unglaubliche Haarschopf. Geradezu provokant riesig mit nach allen Seiten abstehenden dichten Locken. So, wie Che Guevaras durchdringender Blick unter der schwarzen Baskenmütze zur Bildikone wurde und Mao Tse-tungs väterlich wirkendes Antlitz unter der grünen Schirmmütze, war es bei Angela Davis der Afro-Look. Der ließ die schlanke Frau, die wohl bekannteste Unterstützerin der US-amerikanischen Black-Power-Bewegung in den 1960er- und 1970er-Jahren, noch größer wirken.

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Wie sehr Angela Davis andere überragte, zeigen Aufnahmen beim Besuch im September 1972 in der DDR, nur wenige Wochen nachdem die schwarze Aktivistin in einem viel beachteten Prozess in den USA vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen worden war.

SED-Funktionäre wie Parteichef Erich Honecker oder Außenpolitikexperte Hermann Axen wirkten wie brave Schuljungen neben ihr. Sie nahmen das hin, war es doch gelungen, mit der Kampagne zur Freilassung der Amerikanerin eine der erfolgreichsten Solidaritätsbekundungen des Landes zu initiieren, an der sich Hunderttausende DDR-Bürger – vom Kindergartenkind bis zum Rentner – beteiligt hatten.

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Am 10. September 1972 hatten 50.000 Bürger Angela Davis am Flughafen Schönefeld stürmisch in Empfang genommen, 2000 waren erwartet worden. 200.000 versammelten sich gar am 13. September in Leipzig, um die 28-Jährige zu sehen. Davis sollte von der Karl-Marx-Universität die Ehrendoktorwürde erhalten. Bei all der Euphorie achtete die SED-Spitze jedoch darauf, den Kontakt mit der Bevölkerung zur reglementieren. Treffen mit Arbeitern, Jungen Pionieren oder FDJlern fanden nur im Rahmen offizieller Auftritte statt.

Und doch gab es einen Augenblick der Intimität, der die staatliche Inszenierung durchbrach. Als Angela Davis in Ost-Berlin einen Kranz in der Neuen Wache Unter den Linden niedergelegt hatte, wandte sie sich den DDR-Bürgern an der Absperrung zu, die sie mit Beifall begrüßt hatten. Ganz vorn in der ersten Reihe: die damals 22-jährige Erika Berthold, mit hellem Mantel und kurzem Haar.

So, als hätte der Gast sie ausgesucht, steuerte Angela Davis lächelnd auf Erika zu, die ihre Arme weit ausbreitete und der Amerikanerin fast sehnsüchtig entgegenstreckte. Für Sekunden lagen sich beide in den Armen, dann lief Davis – ohne jemand anderem auch nur die Hand zu geben – zum Auto zurück.

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Die Historikerin Dorothee Wierling schildert diese Begegnung in dem Buch „German Zeitgeschichte. Konturen eines Forschungsfeldes“ (Wallstein-Verlag, 312 Seiten, 34,90 Euro). Und sie ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich.

Erika Berthold war nicht das, was die SED-Führung unter einer sozialistischen Persönlichkeit verstand. Zwar war ihr Vater lange Direktor des SED-eigenen Instituts für Marxismus-Leninismus (IML), doch seine Tochter hatte sich 1968 in Frank Havemann verliebt, den Sohn des Dissidenten Robert Havemann, und wenig später einer Gruppe kritischer Funktionärskinder angeschlossen, die in der „Kommune 1 Ost“ zusammenwohnten, in Anlehnung an das Vorbild in West-Berlin. Nach Protesten gegen den Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im August 1968 waren einige der Ost-Kommunarden verurteilt worden.

Als Angela Davis im September 1972 nach Ost-Berlin kam, saß Erika Berthold kurz nach der zweiten Entbindung, ihren Sohn stillend, zu Hause. Frank Havemann war mit der gemeinsamen Tochter zum Flughafen Schönefeld gefahren, Erika fand das ungerecht – auch sie wollte die bekannte US-Freiheitskämpferin erleben. Als ihr Studenten aus der Nachbarwohnung erzählten, dass Davis an der Neuen Wache einen Kranz niederlegen würde und sie Spalier stehen sollten, machte auch sie sich mit dem Kinderwagen auf den Weg.

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Der Historikerin Wierling erzählte sie Jahrzehnte später ihre Beweggründe. „Wir waren ergriffen von ihr, schwarze Amerikanerin, Professorin, also ’ne ganz kluge Frau. Und dann wird sie tatsächlich freigelassen und kommt nach Berlin.“ Auch für ihre intime Geste hat Erika Berthold eine Erklärung. Ihr sei das mechanische Geklatsche der anderen, meist in FDJ-Kleidung, auf den Geist gegangen.

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Außerdem sei da die Erscheinung von Angela Davis gewesen. Dieses lässige Auftreten. Von der Umarmung ist ihr vor allem eines in Erinnerung geblieben: „Sie hat unheimlich gut gerochen.“ Wierling sieht in der Geste das Zusammentreffen von Seelenverwandten, die beide Leidenschaft und Individualismus geschätzt hätten. Die Umarmung sei so etwas wie ein „Akt des geheimen Einverständnisses“ gewesen. Auch wenn das eine sehr gewagte Deutung ist, zeigt sie andererseits den Zwiespalt, in dem die SED-Oberen mit ihrer Inszenierung steckten.

Seit Erich Honecker 1971 neuer erster Mann im Staate geworden war, hatte er alles darangesetzt, die internationale Anerkennung der DDR zu erreichen. Durch Kontakte zu gerade unabhängig gewordenen Ländern der Dritten Welt und zu linken Gruppierungen im Westen – und eben durch Solidaritätsbekundungen. Dass die UN just 1971 zum „Jahr zur Bekämpfung von Rassismus“ erklärt hatten, kam ihm entgegen.

Innenpolitisch sollte vor allem die Jugend stärker auf Kurs gebracht werden. In den 1960er-Jahren hatte die SED-Führung immer wieder feststellen müssen, dass weite Teile des Nachwuchses nur schwer für den Aufbau des Sozialismus zu begeistern war. Obwohl er als „Abenteuer der Menschheitsgeschichte“ verkauft wurde, vergleichbar mit der Entdeckung Amerikas.

Daher war der Einsatz für eine Symbolfigur im Kampf für die Rechte insbesondere schwarzer politischer Gefangener in den USA eine gute Möglichkeit, außenpolitisch Punkte zu sammeln und innenpolitisch so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das Volk und Führung einander näherbringen sollte.

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Angela Davis, die aufgrund ihrer Begabung bereits als 15-Jährige ein Stipendium für eine Privatschule in New York erhalten und in Paris sowie Frankfurt/Main Literatur, Philosophie und Soziologie studiert hatte, wurde nach ihrer Rückkehr aus Europa Mitglied im Che-Lumumba-Club, einer Gruppe von Afroamerikanern in der Kommunistischen Partei der USA (KPUSA). Sie nahm auch Kontakt zur militanten Black Panther Party auf, speziell zu einem Aktivisten namens George Jackson, was die Dozentin 1969 den Job an der University of California kostete.

Im August 1970 scheiterte schließlich in einem Gerichtssaal eine Geiselnahme, mit der Jackson freigepresst werden sollte. Vier Menschen starben.

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Eine der verwendeten Waffen war auf Angela Davis zugelassen, sie hatte sie nur zwei Tage vor der Geiselnahme gekauft. Außerdem war sie mit dem Täter, einem Bruder Jacksons, eng befreundet und tauchte nach der Tat unter. Das FBI setzte sie auf die Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher der USA.

Einige Wochen später wurde Davis verhaftet. Bis zu ihrem Prozess 1972 kam weltweit eine Kampagne für Davis in Gang. Viele glaubten, die Vorwürfe seien konstruiert, um eine führende Stimme gegen den Rassismus in den USA mundtot zu machen. In Ländern mit etablierter linker Bewegung kam es zu Protesten, auch in der Bundesrepublik.

Doch nirgends war der Aufschrei so stark wie in der DDR. Bis zu ihrer Freilassung erschienen mehr als 1700 Artikel in den Medien. Solidaritätsveranstaltungen wurden zur Dauereinrichtung. Schüler sammelten Unterschriften, Betriebskollektive und FDJ-Gruppen schrieben Petitionen, DDR-Bürger folgten zu Tausenden dem Aufruf zur Kampagne „Eine Million Rosen für Angela Davis“ und schickten ihr Postkarten mit Rosenmotiv ins Gefängnis. Ihr zu Ehren entstanden Lieder, Gedichte und Skulpturen.

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Besonders in der jungen Generation fanden die Kampagnen Widerhall. Das modische Erscheinungsbild von Angela Davis, ihre Lockerheit und Natürlichkeit wirkten anziehend. Wie im Westen hing auch in manchem ostdeutschen Jugendzimmer ihr Porträt. Das war ganz im Sinn der SED-Führung, die erkannte, dass Davis dem Bild eines romantischen Revolutionärs entsprach – und die Kommunistin sich gut in die sozialistische Ahnenreihe einordnen ließ.

Doch da gab es auch eine Unsicherheit, dass die DDR-Jugend wie Davis gegen die Zustände im eigenen Land rebellieren könnte. Ein Gymnasiast, der in einer Diskussion anmerkte, für das, was Angela Davis in den USA getan habe, wäre er auch hier in der DDR in den Knast gekommen, musste die Schule verlassen.

Um solche Äußerungen zu unterdrücken, wurde von der Propaganda vieles ausgeblendet oder heruntergespielt: die persönlichen Motive von Davis und ihre Rolle in der Black-Panther-Bewegung, deren Militanz der SED nicht behagte. Auch über ihren Werdegang informierten die DDR-Medien nur noch spärlich. Etwa, dass sie seit Mitte der 70er-Jahre gut dotiert als Professorin in den USA arbeitete. Oder über ihre Wandlung zu einer engagierten Feministin.

Das Foto der Umarmung von Angela Davis und Erika Berthold wurde 1972 in keiner DDR-Zeitung gedruckt. Es erschien erst ein Jahr später, als der Fotograf eine Auszeichnung erhielt. Er selbst machte sich auf die Suche nach der jungen Frau – die „Neue Berliner Illustrierte“ („NBI“), für die er arbeitete, rief die „FDJlerin mit den ausgebreiteten Armen“ öffentlich auf, sich zu melden. Doch Erika dachte nicht daran. Als sie von Arbeitskollegen dazu ermuntert wurde, wiegelte sie ab: „Ihr habt se wohl nicht alle. Ich heiße Erika Havemann, na, da werden die aber jauchzen bei der ,NBI‘.“

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Doch eines Tages stand der Fotograf vor der Tür mit einem Abzug des Bildes. Schnell sei ihm aber klar geworden, „dass er daraus keine Homestory machen konnte“, so Erika Berthold.

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Immerhin wurde einen Monat später ein kleiner Artikel abgedruckt. Erika Berthold schilderte die Schnappschuss-Szene und lieferte eine politische Einordnung, die keine noch so überzeugte FDJlerin besser hinbekommen hätte. Sie hätten im Werk für Fernsehelektronik selbstverständlich Unterschriften für Angela Davis gesammelt, Wandzeitungen gebastelt und sich an Solidaritätsveranstaltungen beteiligt. „Wir haben mitgeholfen, Angela freizukämpfen.“

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Author: Greg O'Connell

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